Hugo Fischers unbekannte Lenin-Biographie (1933) und ihre Neuausgabe 2017
16536
page-template-default,page,page-id-16536,bridge-core-3.1.6,qi-blocks-1.2.7,qodef-gutenberg--no-touch,qode-quick-links-2.1,qodef-qi--no-touch,qi-addons-for-elementor-1.6.9,qode-page-transition-enabled,ajax_fade,page_not_loaded,,vertical_menu_enabled,qode-theme-ver-30.4,qode-theme-bridge,disabled_footer_bottom,qode_header_in_grid,wpb-js-composer js-comp-ver-7.5,vc_responsive,elementor-default,elementor-kit-16847

Hugo Fischers unbekannte Lenin-Biographie (1933) und ihre Neuausgabe 2017

Von Steffen Dietzsch

 

  1. Biographisches

Hugo Fischer wurde am 17. Oktober 1897 in Halle an der Saale geboren. Seit 1908 besuchte er das humanistische Kreuz-Gymnasium in Dresden, sein Abitur bestand er Juni 1916. Danach ging er als Kriegsfreiwilliger an die Front (an die Somme und in die Champagne); hier wurde er schwer verwundet und Ende Oktober 1918 ausgemustert. – Im September 1918 inskribierte er sich an der alma mater lipsiensis für Philosophie, Geschichte und Sanskrit, das er beim Indologen Johannes Hertel (1872-1955) hörte. Sein philosophischen Lehrer waren Johannes Volkelt (1848-1930), Hans Driesch (1867-1941) und Felix Krueger (1874-1948), bei dem er 1921 promoviert wurde (über Jakob Böhme) und bei dem er sich 1926 habilitierte (über Hegel); seine Hegel-Recherchen verband er mit systematischen und methodischen Studien zur Nationalökonomie, zumal der klassischen Arbeitswertlehren.

Fischer war die allen sofort auffällige philosophische Begabung der Fakultät, sein Doktorvater vertraute ihm die Herausgeberschaft der seit 1927 erscheinenden Zeitschrift der Deutschen Philosophischen Gesellschaft an, die Blätter für deutsche Philosophie. Im Herbst 1934 verlässt er dann die Redaktion, enttäuscht über die neuen akademischen Umgangsformen (Verdächtigungen, Sprachregelungen, Bekenntniszwang) und auch persönlich enttäuscht von seinem Redaktionskollegen Gunther Ipsen (1899-1984).

Philosophisch analysiert Fischer in seinen Leipziger Jahren die Bedingungen der Möglichkeit einer neuen Politik- und Zivilisationstheorie, die den Erfordernissen der gegenwärtigen tiefen Krise aller herkömmlichen ‚westlichen‘ Herrschaftsformen Rechnung tragen könnten. Dazu verfasste er einen Zyklus zu vier unterschiedlichen Diagnosen zur Politik in der Moderne: zu Hegel (1928), zu Nietzsche (1930), zu Marx (1932) und zu Lenin (1933); diesen Text aber ließ Fischer dann (offensichtlich wegen der nationalsozialistischen Machtergreifung) sofort einstampfen. – Die späte, allzu späte Erstausgabe Lenin der Machiavell des Ostens wird im Sommer 2017 vom Berliner Verlag Matthes & Seitz vorgelegt werden.

Fischer ließ sich dann für das Sommersemester 1938 von der Universität aus Gesundheitsgründen beurlauben, um (mit Frau und zwei Söhnen) nach Norwegen zu fahren. Hier arbeitete er – als Gast – bei Ewald Bosse (1880-1956) als Research Director am Institutt for Samfunnsforsking og Arbeidslære (Institut für Sozialforschung und Arbeitswissenschaft). – An eine Rückkehr nach Leipzig denkt Fischer schon nicht mehr. Er macht wahr, was er früher schon an Ernst Jünger schrieb: nämlich man müsse „allmählich das sinkende Schiff verlassen und im freien Elemente schwimmen.“ Oder, wie er dann auch (Mai & Juni 1932) an Carl Schmitt schreibt, „in Deutschland zu leben wird immer unausstehlicher.“ Anfang Januar 1933 plant Fischer eine Übersiedlung nach Rom. – Hugo Fischer sah die deutsche Kultur geistig ganz konkret durch Kollegen wie Alfred Baeumler (1887-1968) blamiert, vor dem er schon im ersten Jahrgang der Blätter für deutsche Philosophie gewarnt hatte; nach dem Krieg schreibt er einmal (1948) an den Soziologen Heinz Maus (1911-1978), „solche Leute wie er haben den Ruin Deutschlands auf dem Gewissen. Er ist ein Musterbeispiel innerer Verlogenheit. Übrigens er und Felix Krueger verdächtigten sich gegenseitig, Juden zu sein!“

Mit Kriegsbeginn geht Fischer von Oslo nach England, er lernt u.a. Bertrand Russell kennen und wird englischer Staatsbürger. 1949 übernimmt er eine Professur in Benares (Indien). – 1956 kehrt er dann nach Deutschland zurück, im Oktober 1957 wird er apl. Prof. an der Philosophischen Fakultät in München. – Er starb am 11. Mai 1975 im oberbayerischen Ohlstadt.

 

  1. Fischer und Jünger – Biographisches

 

In den frühen Zwanzigern hatten sich Ernst Jünger und Hugo Fischer in Leipzig kennengelernt. Jünger war (seit Oktober 1923) hier fürs Fach Zoologie immatrikuliert; am Institut dort machte ihm einmal ein Bekannter auf einen Philosophen in der Stadt aufmerksam. Noch im Dezember 1995 bewertet Ernst Jünger im Tagebuch diese Begegnung als nahezu schicksalhaft: Die Bekanntschaft mit dem Magus war unausweichlich. – Von Ernst Jünger bezog Hugo Fischer seine noms de guerre: ‚Magister‘, ‚Magus‘ (in Erinnerung an Johann Georg Hamann) und ‚Nigromontan‘; Jünger erinnerte sich noch im Alter an die Fertigkeit Fischers, eine Situationskomik in knappen Pointen namhaft zu machen. – Im Jahr des Weggangs Fischers aus Deutschland erinnert Ernst Jünger öffentlich – Das abenteuerliche Herz, 1938 – an „Nigromontani liebenswerte Traurigkeit.“ Zu Fischers Fünfundsiebzigsten allerdings tröstet ihn Ernst Jünger, er solle sich nicht grämen, „daß Ihnen die Philosophen vom Fach nicht gratuliert haben. Diesen Vorzug genießen Sie mit Friedrich Nietzsche und manchem anderen“ (Tagebuch, 23. 1.73). Beide waren seit 1928 Mitarbeiter an der Zeitschrift Widerstand (1926-1934) die von Ernst Niekisch und August Winnig (bis 1930) geleitet wurde. Hier hat Fischer – im letzten Jahrgang – ein paar seiner bemerkenswerten Essays geschrieben. Beide blieben immer eng befreundet, sie machten gemeinsame Reisen, u.a. nach Sizilien (Frühjahr 1929), nach Norwegen (Sommer 1935).

 

  1. Intellektuelle Beziehungen zwischen Fischer und Ernst Jünger

Eine tiefe geistige Gemeinsamkeit war wohl Beiden spürbar, als sie sich aus ähnlichen Gründen aus dem intellektuellen Milieu der Nationalen Rechten, das sie zunächst trug, herauszulösen begannen. Das war, als sie bemerkten, dass man das je eigne, also das Deutsche, nicht mehr bloß vor dem Hintergrund seiner historisch gewordenen Polis wird sinnvoll bestimmen können. Man sollte, so Fischer schon 1930, mindestens analytisch auf den Einfall kommen, dass die  nationale Selbsterhaltung nicht mehr nur ein nationales Projekt (Nationalsozialismus bzw. Sozialismus-in-einem-Land) sein kann, sondern planetarisch bedacht werden muß. – Fischers Lenin (1933) und Jüngers Arbeiter (1932) klären jetzt die übergreifenden Dispositionen in unserem Zusammenhalt als Menschen neu. In der sozial-liberalen Ordnung, wie sie von beiden Denkern erlebt wird, ist „der Bürger ‚eigentlich kein Bürger‘, er ist ein Glied der nationalen Volksgemeinschaft“ (Fischer an Carl Schmitt, 1933). Und damit bleibt der Mensch in einen vormundschaftlichen ‚Modus‘ eingebunden. Um hier einen neuen Status zu konstituieren, um Mensch zu werden, ist ein Neues Elementares geltend zu machen: Arbeit als sein Zentralvermögen. Fischer & Jünger sind deshalb so von Lenins Politiktheorie fasziniert, insofern er ganz andere soziale und kulturelle Ausgangslagen zu berücksichtigen scheint, nämlich „das Universum auf die Eigenschaft eines riesigen Arbeitsvorgangs hin zu betrachten“, wie Jünger einmal (am 30.11.1930 an Carl Schmitt) schreibt. Beide begreifen die neuen Horizonte bei Lenin, weil eben – so Hugo Fischer – die Moderne restlos auf Arbeit gestellt ist. Hier vermuten sie – in jenen Jahren, als sie mit Carl Schmitt im Gespräch waren – auch den metaphysischen Kern aller Politik.

Hier wäre neu ein wirklicher Grund der Selbsterhaltung und Selbstverwandlung (der Menschen) zu identifizieren, und dann eben auch ein wirklicher Grund für den Gestaltwandel von Politik, Staat, Recht, Krieg, Nation und schließlich Person – als, wie Fischer schreibt, ens realissimum (Neusatz 2017, S. 30) zu begreifen. – Damit verlassen beide seit Ende der Zwanziger den geistigen Raum der exklusiv national-konservativen Sorge um Deutschland und stehen künftig für das ein, was – inklusiv – das Deutsche seit zweihundert Jahren definiert hat: Deutschheit ist Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualitaet gemischt (Novalis).

 

  1. Hugo Fischers Lenin-Rezeption

Im Sommer 1932 informiert er Carl Schmitt, dass er in der Arbeit zu „einem Russlandband“ stecke, denn die Beschäftigung mit dem Bolschewismus sei der „einzige Gegenwartstoff, mit dem zu beschäftigen sich lohnt.“

Das hat zu tun mit Fischers Forschungen zum Problem des Realismus in der Neuen Politik.  Das bildete seit 1930 den theoretischen Kern und den Zusammenhang dieser Lenin-Studie.

Fischer analysiert die Idee der Räte in Russland, – ob sie nämlich eine moderne ‚dritte‘ Verkehrsform für die Herrschaftsdynamik in der Polis bilden könnten, – jenseits von repräsentativem Parteien-Parlamentarismus (mit dem Makel der ‚Berufspolitik‘) und dezisionistischer Diktatur (mit dem Makel des ‚volonté générale‘). Und die damit aber in ihrem Ausgreifen den engeren Raum jeder Polis sprengen würden. Die Räte wären dann sozusagen die Vermittlungen von Arbeits- und Herrschaftsprozessen als neue Alltagspraxis von Politik. Darin vermag Fischer in Lenin einen Neuen Realisten zu identifizieren, weil er das Format hat, die Gefahr zu bannen, „die der russische revolutionäre Elan in sich birgt“, nämlich „in der Praxis in hohles ‚revolutionäres‘ Geschwätz auszuarten.“ Damit war aber für Fischer auch ein Gedankenzusammenhang mit der Politischen Philosophie Machiavellis augenfällig, der ebenfalls rationale, diesseitige Konstruktionen der Vorgänge von Machterringung und Machterhaltung begreiflich machen wollte.

Dieser Text sollte für das Frühjahr 1933 von der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg zur Auslieferung gebracht werden. Hugo Fischer hat angesichts der neuen Herrschaftsverhältnisse (seit 30. Januar 1933) sein Lenin-Buch nicht mehr publizieren wollen, da auch der Dekan seiner Fakultät sein „Erscheinen einstweilig für inopportun“ erklärt hatte. Fischer stoppt den Druck, der Satz wird zerstört und es bleiben ein paar wenige Buchblöcke übrig, die Fischer für sich behält oder an Freunde weitergibt. Das Buchprojekt geistert in Leipzig noch bis 1936 in Begutachtungs- und Berufungsgremien herum. – Einen der Buchblöcke übermittelt Hugo Fischer an Carl Schmitt, dieses Exemplar bildet hier die Druckvorlage unserer Erstedition.

 

  1. Geistesgeschichtliche Dimensionen

Fischers Lenin ist ideengeschichtlich zu begreifen als ein Beitrag zum seinem Projekt ‚Europa denken‘. Insofern nämlich, als Fischer in Lenins Politiktheorie ganz klar übernationale Schlußfolgerungen erkennt. Gerade darin sieht sich Fischer dem Russen geistig ganz nahe, denn er hat Ende der Zwanziger einen ähnlichen Überstieg projektiert. Das hat er publiziert in seinem wichtigsten Aufsatz überhaupt, – in Der Realismus und das Europäertum (Masaryk-Festschrift 1930), Das Europäische, schreibt er hier, „ist eine Art konkretes Apriori“, womit alle politiktheoretischen Vereinzelungen und Atomisierungen auf eine bestimmte Polis hin obsolet werden. Gerade das erkennt Fischer auch bei Lenin: sein entnationalisiertes Räte(=Sowjet)-System mit seiner übernationalen Struktur ist theoretisch nicht auf ein (räumlich definiertes) ‚großrussisches‘ Reich hin entworfen, sondern reduziert das Staatliche zugunsten der Operativ- & Tätigkeitsräume der Arbeitenden. – Seine europakompatible Leistung ist es, dass sich durch die „Einbürgerung selbstständiger Slaven ins Europäische eine innere Revolutionierung des europäischen Kosmos“ vollziehen könne. – Und als neulich Martin Mosebach (in einem Gespräch mit Alexander Pschera) betonte, es seien „die Deutschen gleichsam erblich dem Europagedanken verhaftet, als einziges Volk in Europa.“ (Cicero, H.10/2016), da wäre programmatisch auf die das begründende Rolle von Hugo Fischers Politiktheorie zu verweisen.

Als Hugo Fischer Mitte der Fünfziger nach Deutschland zurückkehrt, legte er der damaligen Münchner Magnifizenz Joseph Pascher (1893-1979) den Plan zu einer europäischen Zeitschrift vor, den er gemeinsam mit den Jünger-Brüdern, mit Hans Speidel und Raymond Aron gefasst hatte; auch steht er in dieser Zeit in Kontakt mit dem ‚Paneuropäer‘ Richard Nikolaus CoudenhoveKalergi (1894-1972).

 

  1. Gibt es eine Fischer-Rezeption?

Die verläuft ganz klandestin … verborgen im Kosmos von Literatur, Dichtung und Essayistik Friedrich Georg und Ernst Jüngers. Fischers Werk ist außerhalb des Jüngerkreises nahezu unbekannt geblieben. – Fischers Emigrantenschicksal wurde noch von keinem Zeitgeist oder irgendeiner Erbe-Anstrengung berührt (‚aufgearbeitet‘).

 

  1. Zur Neuedition der Lenin-Biographie

Wir legen mit unserer Edition die Erstausgabe von Lenin der Machiavell des Ostens vor. Sie erscheint im Berliner Verlag Matthes & Seitz. – Es ist kein Faksimile des Druckblocks der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg von 1933. Der alte Fraktursatz wurde in einer anderen Schriftart neu gesetzt, die Anmerkungen des Autors wurden aus dem laufenden Text herausgenommen und an das jeweilige Seitenende gesetzt. Diese komplizierte Arbeit der neuen Textherstellung verdanken wir Herrn Daniel Neuhaus und Prof. Manfred Neuhaus (Leipzig).

Der Text wurde zudem noch mit Anmerkungen der Herausgeber (Steffen Dietzsch, Manfred Lauermann), zwei zeitgenössischen Fotos, einem Nachwort und einem Personenverzeichnis versehen.

Das ganze Projekt eine Neuedition wurde von allem Anfang an unterstützt von Prof. Bernhard Gajek (Regensburg)