Jüngers Wilflinger Bibliothek wird vollständig erfasst – ein Gespräch mit Niklas Dechert
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Jüngers Wilflinger Bibliothek wird vollständig erfasst – ein Gespräch mit Niklas Dechert

Niklas Dechert vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach arbeitet mehrere Jahre an der vollständigen Erfassung der Bibliothek Ernst Jüngers in Wilflingen – ein sehr wichtiges Projekt, das vielen zukünftigen Forschern zu Gute kommen wird. Wir haben ihn im Dachgeschoss des Stauffenberg’schen Forsthauses besucht und ihn für die Jünger-Gesellschaft befragt.

 

 

Herr Dechert, bitte beschreiben Sie zunächst das Projekt der Erfassung der Bibliothek Ernst Jüngers (Umfang, Zeitraum, Umsetzung).
Die Wilflinger Bibliothek Ernst Jüngers steht als museales Interieur in der Stauffenberg’schen Oberförsterei in Wilflingen. Diese war Ernst Jüngers Wohnhaus für fast ein halbes Jahrhundert und ist mittlerweile als literarische Gedenkstätte eingerichtet. Mit etwa 11.000 Bänden stellt die Bibliothek eine umfassende und bedeutende literarisch-naturwissenschaftliche Universalsammlung dar. Ebenso kann sie als wichtiges zeitgeschichtliches Dokument des 20. Jahrhunderts gesehen werden.
Das Projekt wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach durchgeführt, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und umfasst die Katalogisierung, Inventarisierung und Provenienzerschließung aller Buchexemplare in der Wilflinger Bibliothek. Bei der Katalogisierung werden Jüngers Bücher formal erschlossen. Es wird also nachgewiesen, welche Bücher sich in Jüngers Bibliothek befinden. Sein weites Spektrum an Interessengebieten wird hier deutlich, mit Schwerpunkten unter anderem in den Bereichen der bildenden Kunst, Abenteuerromanen, Philosophie, Geschichte, französischer Literatur oder auch der Entomologie. Inventarisierung bedeutet in diesem Fall, dass jedes Exemplar eine standortspezifische Signatur erhält. Das ist wichtig, da die Bibliothek, wie erwähnt, als museales Interieur dient. Die Aufstellung soll – soweit nachvollziehbar – wie zu Jüngers Lebzeiten erhalten bleiben. In der Provenienzerschließung werden Arbeitsspuren oder Hinweise auf Vorbesitzer und die Geschichte jedes einzelnen Exemplars aufgenommen.
Ich bearbeite die Bibliothek seit März 2015. Bis Mai 2018 soll das Projekt abgeschlossen sein.

 

Welche anderen Schriftsteller-Bibliotheken hat Marbach bereits erfaßt?
Bearbeitet sind bereits die (Teil-)Nachlassbibliotheken von Paul Celan, Reinhart Koselleck, Hans Blumenberg, Alfred Döblin und der Familie von Friedrich von Schiller. Es gibt in Marbach übrigens noch eine weitere Nachlassbibliothek von Ernst Jünger, die diejenigen Bücher umfaßt, die der Autor nicht in seinem Wohnhaus lagerte. Dieser Teilnachlass von etwa 4.000 Bänden ist in einem anderen Projekt letztes Jahr schon komplett erfasst worden. Für die Zukunft sind weitere Erschließungsprojekte geplant.

 

Wer profitiert von dieser Erfassung?
In erster Linie wird die Wilflinger Bibliothek durch das Projekt überhaupt erst nachgewiesen und zugänglich gemacht. Im Online-Katalog des Deutschen Literaturarchivs können die erfassten Bücher recherchiert werden. Profitieren werden davon vor allem Personen, die sich wissenschaftlich mit der Person und dem Werk Ernst Jünger auseinandersetzen wollen.

 

Erfassen Sie auch Widmungen und Jüngers Randnotizen?
Die Provenienzerschließung ist ein wesentlicher Bestandteil des Projekts. Es werden alle exemplarspezifischen Merkmale erfasst und beschrieben, natürlich auch diejenigen, die nicht von Ernst Jünger selber stammen. Darunter fallen dann auch die zahlreichen Widmungsexemplare, die Aufschluss über Jüngers Bekanntschaften, Freunde und Verehrer geben. Es ist interessant zu beobachten, dass sich diese Persönlichkeiten weder politisch noch ideologisch eingrenzen lassen. Sehr wichtig sind Jüngers handschriftliche Anmerkungen. Jünger hat in seinen Büchern intensiv gearbeitet. Er zitiert und kommentiert Lektüre in seinen Werken und Tagebüchern. Randnotizen und Anstreichungen in diesen Lektüren geben Aufschluss über seine Arbeitsweise. Für mich als Bearbeiter ist es hilfreich, dass Jünger seine annotierten Stellen häufig in den hinteren Vorsatzblättern noch einmal mit den dazugehörigen Seitenzahlen aufgelistet hat. Er hatte noch weitere Marotten, wie etwa das Korrigieren von Druck- und Rechtschreibfehlern, welche er stets mit Monogramm und Datum versah. Auch andere Provenienzmerkmale sind wichtig. In seinen verschiedenen Exlibrisarten hat Jünger etwa häufig weitere Notizen zur Herkunft eines Exemplars notiert. Diese „Profile“ zur Herkunft und Benutzung eines Exemplars sind dann auch für Literaturforscher eine große Stütze.

 

Was geschieht mit Blättern, Fotos, Einlagen, die Sie in den Büchern finden?
Einlagen werden erst einmal durch die erwähnte Provenienzerschließung miterfasst. Das gilt gleichermaßen für Fotos, Briefe, Notizzettel und andere Einlagen, wie etwa Pflanzenblätter, die Jünger mit großer Vorliebe eingeklebt und eingelegt hat.
Im Deutschen Literaturarchiv Marbach würden diese losen Einlagen nach der Erfassung aus dem Buch entfernt und gesammelt in der Archivabteilung aufbewahrt werden. Hier in Wilflingen ist das anders, die Einlagen bleiben im Buch. Bestimmte Einlagen machen einen Teil des optischen Eindrucks der Bibliothek aus – z.B. aus dem Buch herausstehende Papierstreifen oder Lesezeichen-, sie unterstützen sozusagen den musealen Charakter.

 

Wie verhindern Sie, dass Besucher Bücher aus dem Jünger-Haus stehlen?
Die einmalige Atmosphäre des Jünger-Hauses kommt auch durch die Authentizität und die Griffnähe zum Mobiliar, zu den Objekten und Büchern zustande. Man bekommt fast den Eindruck, Ernst Jünger selber könnte jeden Moment durch die Tür treten. Umfangreiche Absperrungen würden diese Atmosphäre zunichte machen. Das bedeutet aber auch, dass Besucher Jüngers erhaltene Arbeits- und Lebensräume nur im Rahmen einer Führung durch die Museumsmitarbeiter besichtigen können. Es wird niemand unbeaufsichtigt durchs Museum geschickt. Zusätzlich sind die Museumsräume videoüberwacht.

 

Was war denn bislang Ihr kuriosester Fund?
Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, da ich fast täglich interessante Funde mache. Es gibt in Jüngers Bibliothek zahlreiche Raritäten, Kuriositäten, Alte Drucke und Bücher mit besonderen Provenienzmerkmalen. Was in anderen Bibliotheken vielleicht als „kurios“ gilt, muss hier in der Bibliothek vielleicht noch als „normal“ angesehen werden.
Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir Comics des Künstlers Felix Weber. Dessen „Gilda“-Comics leben von ihrer Sex- und Gewaltdarstellungen. Sie passen aufgrund ihrer Darstellungsweise so gar nicht zum Rest der Bibliothek. Jünger sortierte die Comics dann auch direkt neben Büchern zur ethnologischen Sexualforschung, den „Anthropophyteia“. Er muss da also eine Verbindung gezogen haben. Jünger hatte mit dem Autor Briefkontakt, womöglich hat er die Comics von diesem geschenkt bekommen. Laut einer Notiz von Jünger kamen diese 1994 in seinen Besitz. Das zeigt jedenfalls, dass Jünger sogar in der Underground-Kulturszene Anhänger hatte.

Einblicke: Jüngers Marginalien in den Memoiren des Grafen de Viel Castel und ein Ex libirs Jüngers.